DOM Nachrichten - Die Rolle der Ikone im geistlichen Leben

Kurzbeitrag für das Mitglieder-Magazin Nr. 23 der DOM

ARTIKEL

Dies ist eine Zusammenfassung und Erweiterung des Vortrags von der dritten St. Justin Theologischen Konferenz mit Ergänzungen und ganz neuen Gedanken.

Martin Rybacki: Die Rolle der Ikone im geistlichen Leben
(3. St. Justin Theologische Konferenz)
17.11.2025

Geistliches Leben kann man auf zwei Weisen verstehen, einmal als heiligen Zustand: das Leben in der Gegenwart Gottes, das Leben im Heiligen Geiste; und dann als den Weg dorthin: die Mühe um die Gegenwart Gottes im Alltag. Gott, obwohl ein überall Gegenwärtiger und alles Erfüllender, bleibt uns verborgen, weil unsere Augen gehalten werden durch Sünde, Leidenschaften und Zerstreuung. Doch macht Gott sich uns erfahrbar, indem er sich uns schenkt, oder unsere nie genügende Mühe in der Askese gnädig belohnt; doch ob, wann und wie er beides tut, entschiedet nur er.

Interessant für uns Gläubige ist also die Arbeit, die wir zusammen mit Gott an uns selbst vollbringen können, um uns ihm mehr und mehr öffnen zu können - die Askese also. Askese bedeutet Übung, nämlich das Einüben des Haltens der Gebote der Bergpredigt, die in gottmenschlichen Tugenden münden – und die der hl. Justin von Čelije in seinem Kommentar zum hl. Evangelium nach Matthäus ausführlich behandelt.

Die Gegenwart Gottes auf Erden ist das Königtum der Himmel auf Erden, denn erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit, doch nur für den, der Augen hat zu sehen. Die heiligen Väter und Mütter sind Zeugen und Lehrer des asketischen Weges, um die Augen unserer Seele, unseren Nous, zu sammeln, zu reinigen, zu erleuchten, um, wie die Reinen im Herzen, Gott zu schauen.

Ikonen wollen uns auf diesem Weg helfen, denn sie haben offensichtlich etwas mit unseren Augen zu tun, den äußerlichen und den innerlichen. Zunächst helfen sie uns, wie der hl. Paisios sagt, unseren Sehsinn zu reinigen von sündigen Bildern. Dann helfen sie uns im Gebet, weil sie uns dazu einladen. Dann helfen sie uns durch ihre Funktion als Fenster, Tür und Spiegel.

Umgeben von einer kommerziellen Bilderflut nehmen wir durch unsere Augen Bilder auf, die mit und für Leidenschaften und Sünden werben. Reichern wir unsere innere Bilderbibliothek mit solchen Bildern an, vergrößern wir das Arsenal, mit dem uns der Widersacher bekriegen kann. Ikonen wirken dem entgegen, indem sie uns eine entleidenschaftlichte Welt voller Stille, Ordnung und innerem Frieden zeigen – trotz inhaltlich harscher Motive wie Martyrerszenen, sind alle abgebildeten Beteiligten emotional nicht aufgewühlt.

Schenken wir Gott Lebenszeit und -raum, um uns ihm in Stille und Gebet zu öffnen, ist das wahrer Gottes-Dienst. Ikonen laden uns dazu ein und helfen uns, unsere Aufmerksamkeit zu bündeln. Praktisch tun sie dies dadurch, dass sie nur das Wesentliche auf gezügelte Weise zeigen und so Sinne und ästhetisches Empfinden nicht kitzeln, sondern beruhigen, damit der Geist das Irdische loslassen und sich auf Gott fokussieren und sich ihm so in die Tiefe emporstrecken kann.

Die vereinfachte Darstellung von Räumlichkeit und Körperlichkeit in der Ikone bewirkt, dass wir ein anderes Zeitgefühl bekommen. Im Englischen haben wir die Wörter the presence und the present, Anwesenheit und Gegenwart, to be present, gegenwärtig sein, im Jetzt sein, da wo Gott ist. Die Ikone vergegenwärtigt uns im Jetzt die göttliche Anwesenheit, indem sie uns in die Gegenwart der Heiligen versetzt und uns so der Ewigkeit näherbringt.

Die orthodoxe Kirchenausmalung macht dies deutlich, indem sie uns in der Liturgie wortwörtlich mit den Heiligen, den Engeln, mit der Heilsgeschichte umarmt, mit Christus thronend über uns. Wir stehen im Jetzt der Anbetung Gottes inmitten der Heiligen, die im Himmel lebendig sind und unaufhörlich Gott verherrlichen – gesegnet das Königtum, das Königtum ist jetzt.

Sie sind Fenster und ziehen uns an, näher zu kommen und hindurchzuschauen. Doch wir sollen nicht bei ihnen stehen bleiben und die bloße Materie betrachten wie Adam und Eva, die an der Sinnlichkeit und der Schönheit der stofflichen Welt scheiterten. Also werden aus den Fenstern Türen, durch die wir in eine andere, himmlische Welt hindurchtreten können, wenn wir wollen. Diese Welt ist das göttliche Licht, in dem die Heiligen stehen. Sie weisen auf Christus, der sie verwandelte, denn nicht mehr sie leben, sondern Christus in ihnen. Der Heiligenschein zeigt es, er repräsentiert das Licht Christi, das aus ihnen strahlt. Damit ist jede Ikone eine Christusikone. Auch das Antlitz der Heiligen, ihr ganzer Leib, ist verwandelt, verherrlicht, auferstanden in Christus und somit nicht mehr wie zu irdischen Lebzeiten, darum ist die Ikone auch kein Foto.

Die Ikone ist mehr ein Spiegel, in dem wir unserer Mangelhaftigkeit begegnen, gleichzeitig aber auch unserem Potenzial, gemäß des Abbildes Gottes in uns, der Christusikone auf dem Grund unserer Seele. Christus stellte das Abbild Gottes ins uns wieder her, und die Ikonen zeigen uns Menschen, die Gott ähnlich wurden. Nicht umsonst kann man Ikone nicht nur mit Bild/ Abbild, sondern auch mit Ähnlichkeit aus dem Griechischen übersetzen. Zusammen also mit den Leben der Heiligen, die ja das Evangelium in Praxis sind, erinnern uns die Ikonen täglich an unsere Berufung, Gott ähnlich zu werden. Denn es geht um Christus, und darum, dass wir so werden wie er. Dies geschieht in der Beziehung zu ihm.

Um eine Beziehung zu einer Person aufzubauen, muss ich sie kennenlernen. Dazu kann ich mit der Person sprechen, das ist das Gebet, ich kann auch hören und lesen, was seine Mutter und seine Freunde zu ihm und über ihn sagen – ich habe euch aber Freunde genannt, weil ich alles, was ich gehört habe von meinem Vater, euch kundgetan habe. Der Vater spricht durch den Sohn direkt zu seinen Freunden, welche auf den Ikonen abgebildet sind, zu uns – welch ein Gnadengeschenk. Und was er sagt, ist: Seid heilig, denn ich bin heilig. Wie wir heilig werden, erklärt uns unter anderem auch der hl. Diadochos von Photike und vergleicht das Abbild Gottes in uns mit der Umrisszeichnung und die Ähnlichkeit Gottes mit dem fertigen Portrait, wobei die Gnade Gottes die Umrisszeichnung nach und nach mit Farben, das sind die Tugenden, ausmalt. Das finale Portrait ist Christus in uns. C. S. Lewis bringt es uns näher:

Ich denke nicht, dass Christus in uns wohnen kann, solange wir uns darüber sorgen, was mit unserer Persönlichkeit passieren wird. Wenn jemand Salz nicht kennen würde, könnte er denken, es müsse jeden anderen Geschmack auslöschen, dabei kommt der Geschmack der Speise ja überhaupt erst durch das Salz zur Geltung. So ist es auch mit Christus: Wenn du dich völlig seiner Persönlichkeit anbefiehlst, dann wirst du dich, zum ersten Mal in deinem Leben, zu einer wahren Person entwickeln. Er erschuf die ganze Welt, er erdachte, wie ein Autor sich Buchcharaktere ausdenkt, all die verschiedenen Menschen, die du und ich bestimmt wurden zu werden. Unsere wahren „Ichs“ warten auf uns in ihm.

Uns Christus anzubefehlen, heilig zu werden, ist ein Prozess, wie schon erwähnt: Kampf gegen Leidenschaften, Mühe um die Tugenden, Ruhezeit für das Gebet, wartend auf die Begegnung mit Gott im noëtischen, dem geistigen Gebet, das Gott allein gibt. Das ist keine bloße Theorie, das ist konkrete Praxis. So warnt auch der hl. Sophrony prägnant, es sei unumgänglich, jahrelang zu beten, damit in der Stunde des Todes…, wenn unser ganzes Sein einem brutalen Auslöschungsprozess unterworfen wird, … das Gebet nicht versiegt und wir Gott vergessen.

Wir müssen uns bewusstwerden, dass wir eine ganze Menge Bilder von Mönchen und Nonnen an den Wänden hängen haben. Erinnern wir uns doch, als wir jung waren, hatten einige von uns Poster an den Wänden von prominenten Menschen, die wir bewunderten, Sportler, Musiker, usw. Wir ehrten sie auf diese Weise, weil wir so sein wollten wie sie. Und heute?

Der hl. Johannes Chrysostomos sagt in der Einleitung zu seinem Kommentar zum hl. Evangelium nach Matthäus in etwa, dass, wenn wir im Heiligen Geiste leben würden, wir die Heilige Schrift nicht bräuchten, denn wir würden das Evangelium verkörpern. Übertragen auf die Ikonen könnte man sagen, dass, wenn wir im Heiligen Geiste leben würden, wir keine Ikonen bräuchten, denn wir wären lebendige Ikonen für- und voreinander.

2025 Martin Rybacki für DOM - Deutschsprachige Orthodoxie in Mitteleuropa